Anlässlich des Jubiläums "20 Jahre Wende" erinnert die Stadtverwaltung Eisenach in unregelmäßigen Abständen mit "Historischen Kalenderblättern" für die Zeit vom 10. September bis 26. Oktober an wichtige Ereignisse der Wendezeit in Eisenach. Es wurde eine Auswahl aus den Ereignissen und Begebenheiten getroffen und das Kalendarium erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Teil 1 - Brief aus Weimar - 10. September 1989
Von kaum zu unterschätzender Bedeutung für die politische Entwicklung, die im Herbst 1989 schließlich zur friedlichen Revolution führte, ist der sogenannte "Brief aus Weimar". Vier in kirchlichem Dienst stehende CDU-Mitglieder aus Thüringen (damals Bezirk Erfurt) hatten ihn verfaßt und am 10.September an den Hauptvorstand sowie an alle Bezirks- und Kreisvorstände ihrer Partei versandt.
Die Bedeutung dieses Dokumentes wird bei einem Blick auf den gesellschaftspolitischen Rahmen deutlich:
- Am 7. Mai 1989 hatten die Partei- und Staatsführung der DDR die Bevölkerung zu Kommunalwahlen aufgerufen. Das ganz offensichtlich gefälschte Wahlergebnis löste in weiten Teilen des Volkes Unmut und Wut aus. Die Menschen fühlten sich belogen und entmündigt.
- Am 4. Juni richtete das chinesische Militär ein blutiges Massaker unter friedlich protestierende Studenten auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking an. Die Volkskammer der DDR wertete die friedlichen Proteste der Studenten als konterrevolutionär und übermittelte der chinesischen Staats- und Parteiführung nach dem Massaker "solidarische Grüße".
- Bereits seit Mai begannen Ungarn und Österreich mit dem Abbau ihrer Grenzanlagen.
- Tausende DDR-Bürger nutzen dies zur Flucht "über die grüne Grenze".
- In Budapest und in Prag suchten hunderte DDR-Bürger Zuflucht in den Botschaften der Bundesrepublik. Gleiches geschah in der Ständigen Vertretung der BRD in der Ostberlin. Tausende Menschen überlegten, das Land zu verlassen. Die Zahl der Ausreiseanträge stieg unaufhörlich. Die "DDR-Offiziellen" reagierten darauf in den Medien mit der Äußerung, diesen Bürgern "keine Träne nachzuweinen".
Viele DDR-Bürger erfüllte die Entwicklung mit Sorge, eine gewisse Hoffnungslosigkeit machte sich breit. Mit dem häufig gebrauchten Ausspruch "der letzte macht das Licht aus" wurde versucht, dem mit Galgenhumor zu begegnen.
In dieser Situation entstand der "Brief aus Weimar", verfasst u.a. von Eisenachs Oberkirchenrat Martin Kirchner. Der Brief benannte in 30 Punkten die Probleme in Staat und Gesellschaft. Ungewohnt offen legten er die Finger auf die Wunden, benannte zugleich aber konkret Forderungen und Lösungsansätze. An vorderster Stelle standen die Demokratisierung von Kultur und der Wirtschaft, die Forderung nach der Mündigkeit der Bürger, der Reisefreiheit und der Freiheit der Meinungsbildung. In einer hochsensiblen Zeit nahmen die Unterzeichner dieses Briefes ihre Verantwortung als Kirchenfunktionäre und Mitglieder ihrer Partei wahr. Stellvertretend für die von ihnen repräsentierten Einrichtungen boten sie den Bürgern ein Ventil. Dafür standen sie mit ihrem Namen.
Bezeichnend für die damalige Zeit war, dass dieses richtungweisende Dokument zunächst nur über die sogenannten Westmedien bei der DDR-Bevölkerung bekannt wurde. Erst Ende Oktober 1989, als die "friedliche Revolution" kurz vor ihrem Höhepunkt stand, fand das CDU-Zentralorgan "Neue Zeit" den Mut, den Brief zu veröffentlichen.